Was der Friedensnobelpreis für die EU mit syrischen Flüchtlingen zu tun haben könnte
Das „Projekt Syrien“ beginnt für
mich mit meiner Ankunft in Istanbul am 12. Oktober 2012; dem Tag, an
dem die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhält. Ein
Zufall?
Die Europäische Union erhält diesen
Preis für ihren „erfolgreiche[n] Kampf für Frieden und Versöhnung
und für Demokratie sowie die Menschenrechte“ [1]. Ja, kein
Zweifel: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die innereuropäischen
Konflikte massiv abgenommen, sicherlich nicht zuletzt dank der
verstärkten Kooperationen zwischen den Mitgliedstaaten der zunächst
Wirtschafts- und dann auch Finanzunion, die den Nährboden für das
wachsende Projekt der Europäischen Union bieten. So gab es in Europa
keine Kriege zwischen EU-Mitgliedsstaaten mehr – die kriegerischen
Auseinandersetzungen u.a. im ehemaligen Jugoslawien werden als
Bürgerkriege kategorisiert, während Einsätze von NATO oder FRONTEX
auf supranationaler Ebene einzuordnen sind. Dank des
Schengen-Abkommens stellen innereuropäische Grenzkontrollen
mittlerweile einen Sonderfall dar, teilweise lässt sich sogar ohne
es zu bemerken über Grenzen fahren und es braucht nicht einmal mehr
Geld zu wechseln, wer aus der Bundesrepublik nach Italien in Urlaub
fährt. Ehemalige „Erbfeinde“ wie Frankreich und Deutschland
organisieren zahlreiche Schüleraustausche; und die Achse
Berlin-Paris ist maßgeblich für alle wesentlichen Entscheidungen
der Staats- und Regierungschefs des Nobelpreisträgers. Ohne Merkel
und Hollande geht heutzutage in Europa fast gar nichts mehr.
Kooperationen lösen Feindschaften ab.
Letztes Jahr war es Obama, dieses Jahr
ist es die EU: Es sind offenbar nicht mehr Einzelpersonen, die mit
diesem Preis für ihre konkreten Verdienste für den Frieden
ausgezeichnet werden, sondern Institutionen und Staatsmänner. Der
Friedensnobelpreis hat so eine symbolische Dimension bekommen und
wird auch von der Presse nun eher im Sinne auffordernder
Vorschusslorbeeren interpretiert: Angesichts von Finanzkrise und
zunehmenden militärischen Einsätzen europäischer Staaten im
Ausland weltweit lässt sich der Friedensnobelpreis auch als
Aufforderung lesen, die friedliche Kooperation in Europa auszubauen.
Danke, Oslo?
Denn: Ob Europa wirklich Frieden
stiftet, ist nicht nur aus der Innenansicht, sondern vielmehr auch
von außen zu bewerten. Im Inneren ist ein Zusammenwachsen zweifellos
zu beobachten. Wenn auch vielleicht keine flächendeckende
„europäische Identität“ existiert, so gibt es doch schon
vermehrt das Gefühl, dass man in Europa in einem Boot sitzt und
nicht mehr rein nationalstaatlich denken und handeln sollte.
Ebenfalls in Booten sitzen jedoch auch viele Menschen aus Asien und
Afrika, die von Hollywood-Filmen und Werbekampagnen gelockt auf eine
bessere Zukunft im Nordwesten zusteuern, um schließlich entweder im
Mittelmeer zu ertrinken, es auf unsicheres Terrain und in
ausbeuterische Arbeit aufs Festland zu schaffen oder von
FRONTEX-Soldaten aufgegriffen und in Flüchtlingslager gesteckt zu
werden.
Wenn man dieWorte der Politiker ernst
nehmen würde, dann müsste man auch gegenüber syrischen
Flüchtlingen solidarisch auftreten. Aus der Sicht Europas müsste
die Sache eigentlich klar sein: Sie verlassen Haus und Hof, weil um
sie herum Krieg und Zerstörung herrscht. Sie lehnten sich vielleicht
gegen den „Dikator“ Assad auf und sind der Gefahr der Vergeltung
ausgesetzt. Sie setzen sich für die von uns hochgehaltenen Werte
Gleichheit, Demokratie und Freiheit ein bzw. leiden darunter, dass
diese Werte in Syrien nicht „herrschen“. Müsste die
Friedensmacht Europa (für solche Worte wie „Friedensmacht“, also
Frieden und Macht in einem Ausdruck, muss man die deutsche Sprache
einfach bewundern) nicht auch in einer solchen Situation eingreifen
und helfen?
Dieser Frage möchten wir in den
kommenden Wochen nachgehen. Was passiert gerade an der syrischen
Grenze? Warum gibt es in einem Land, das ich 2008 noch friedlich
bereisen konnte, nun einen Bürgerkrieg – wer kämpft da eigentlich
und wofür? Und: Wird der frisch gekürte Friedensnobelpreisträger
diesen Lorbeeren auch an seinen Außengrenzen gerecht?
Während ich mir diese Fragen noch
stelle und die Antworten durch eigene Erfahrung vor Ort finden
möchte, ist die Sache für Außenminister Westerwelle klar. Er weiß,
was die Flüchtlinge wollen und leitet daraus ab, was das für Europa
bedeutet. "Diese Flüchtlinge wollen ja nicht auf Dauer ihr Land
verlassen, sie haben Verwandte, sie haben ihre gesamten persönlichen
Beziehungen zu dem Land, und sie wollen möglichst schnell zurück in
das Land."[2] Das Handeln Europas, die syrischen Flüchtlinge
nur sehr begrenzt aufzunehmen, ist also genau in deren Interesse? Ob
es wirklich so einfach ist, werden wir in den kommenden Wochen
herauszufinden versuchen.
[1] Erklärung des Nobel-Kommitees im
Wortlaut:
http://www.spiegel.de/politik/ausland/nobelpreis-fuer-eu-erklaerung-des-komitees-im-wortlaut-a-860952.html
KORREKTUR: Obama erhielt den Friedensnobelpres bereits VORletztes Jahr, im Jahr seines Amtsantritts -- und nicht letztes Jahr. Wir bitten um Entschuldigung. (JMW)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen