Mittwoch, 17. Oktober 2012

Projekt Syrien beginnt!

Was der Friedensnobelpreis für die EU mit syrischen Flüchtlingen zu tun haben könnte


Das „Projekt Syrien“ beginnt für mich mit meiner Ankunft in Istanbul am 12. Oktober 2012; dem Tag, an dem die Europäische Union den Friedensnobelpreis erhält. Ein Zufall?

Die Europäische Union erhält diesen Preis für ihren „erfolgreiche[n] Kampf für Frieden und Versöhnung und für Demokratie sowie die Menschenrechte“ [1]. Ja, kein Zweifel: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die innereuropäischen Konflikte massiv abgenommen, sicherlich nicht zuletzt dank der verstärkten Kooperationen zwischen den Mitgliedstaaten der zunächst Wirtschafts- und dann auch Finanzunion, die den Nährboden für das wachsende Projekt der Europäischen Union bieten. So gab es in Europa keine Kriege zwischen EU-Mitgliedsstaaten mehr – die kriegerischen Auseinandersetzungen u.a. im ehemaligen Jugoslawien werden als Bürgerkriege kategorisiert, während Einsätze von NATO oder FRONTEX auf supranationaler Ebene einzuordnen sind. Dank des Schengen-Abkommens stellen innereuropäische Grenzkontrollen mittlerweile einen Sonderfall dar, teilweise lässt sich sogar ohne es zu bemerken über Grenzen fahren und es braucht nicht einmal mehr Geld zu wechseln, wer aus der Bundesrepublik nach Italien in Urlaub fährt. Ehemalige „Erbfeinde“ wie Frankreich und Deutschland organisieren zahlreiche Schüleraustausche; und die Achse Berlin-Paris ist maßgeblich für alle wesentlichen Entscheidungen der Staats- und Regierungschefs des Nobelpreisträgers. Ohne Merkel und Hollande geht heutzutage in Europa fast gar nichts mehr. Kooperationen lösen Feindschaften ab.

Letztes Jahr war es Obama, dieses Jahr ist es die EU: Es sind offenbar nicht mehr Einzelpersonen, die mit diesem Preis für ihre konkreten Verdienste für den Frieden ausgezeichnet werden, sondern Institutionen und Staatsmänner. Der Friedensnobelpreis hat so eine symbolische Dimension bekommen und wird auch von der Presse nun eher im Sinne auffordernder Vorschusslorbeeren interpretiert: Angesichts von Finanzkrise und zunehmenden militärischen Einsätzen europäischer Staaten im Ausland weltweit lässt sich der Friedensnobelpreis auch als Aufforderung lesen, die friedliche Kooperation in Europa auszubauen. Danke, Oslo?
Denn: Ob Europa wirklich Frieden stiftet, ist nicht nur aus der Innenansicht, sondern vielmehr auch von außen zu bewerten. Im Inneren ist ein Zusammenwachsen zweifellos zu beobachten. Wenn auch vielleicht keine flächendeckende „europäische Identität“ existiert, so gibt es doch schon vermehrt das Gefühl, dass man in Europa in einem Boot sitzt und nicht mehr rein nationalstaatlich denken und handeln sollte. Ebenfalls in Booten sitzen jedoch auch viele Menschen aus Asien und Afrika, die von Hollywood-Filmen und Werbekampagnen gelockt auf eine bessere Zukunft im Nordwesten zusteuern, um schließlich entweder im Mittelmeer zu ertrinken, es auf unsicheres Terrain und in ausbeuterische Arbeit aufs Festland zu schaffen oder von FRONTEX-Soldaten aufgegriffen und in Flüchtlingslager gesteckt zu werden.
Wenn man dieWorte der Politiker ernst nehmen würde, dann müsste man auch gegenüber syrischen Flüchtlingen solidarisch auftreten. Aus der Sicht Europas müsste die Sache eigentlich klar sein: Sie verlassen Haus und Hof, weil um sie herum Krieg und Zerstörung herrscht. Sie lehnten sich vielleicht gegen den „Dikator“ Assad auf und sind der Gefahr der Vergeltung ausgesetzt. Sie setzen sich für die von uns hochgehaltenen Werte Gleichheit, Demokratie und Freiheit ein bzw. leiden darunter, dass diese Werte in Syrien nicht „herrschen“. Müsste die Friedensmacht Europa (für solche Worte wie „Friedensmacht“, also Frieden und Macht in einem Ausdruck, muss man die deutsche Sprache einfach bewundern) nicht auch in einer solchen Situation eingreifen und helfen?

Dieser Frage möchten wir in den kommenden Wochen nachgehen. Was passiert gerade an der syrischen Grenze? Warum gibt es in einem Land, das ich 2008 noch friedlich bereisen konnte, nun einen Bürgerkrieg – wer kämpft da eigentlich und wofür? Und: Wird der frisch gekürte Friedensnobelpreisträger diesen Lorbeeren auch an seinen Außengrenzen gerecht?

Während ich mir diese Fragen noch stelle und die Antworten durch eigene Erfahrung vor Ort finden möchte, ist die Sache für Außenminister Westerwelle klar. Er weiß, was die Flüchtlinge wollen und leitet daraus ab, was das für Europa bedeutet. "Diese Flüchtlinge wollen ja nicht auf Dauer ihr Land verlassen, sie haben Verwandte, sie haben ihre gesamten persönlichen Beziehungen zu dem Land, und sie wollen möglichst schnell zurück in das Land."[2] Das Handeln Europas, die syrischen Flüchtlinge nur sehr begrenzt aufzunehmen, ist also genau in deren Interesse? Ob es wirklich so einfach ist, werden wir in den kommenden Wochen herauszufinden versuchen.



KORREKTUR: Obama erhielt den Friedensnobelpres bereits VORletztes Jahr, im Jahr seines Amtsantritts -- und nicht letztes Jahr. Wir bitten um Entschuldigung. (JMW)

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