Freitag, 9. November 2012

Izmir IV: Das hämophile Kind // The haemophiliac child


English translation: see below

Europa ist bislang nicht bereit, syrische Flüchtlinge, die momentan als Binnenflüchtlinge in Syrien oder in den Auffanglagern der Nachbarstaaten leben, aufzunehmen. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle äußerte sich jedoch kürzlich dahingehend, dass Deutschland im Prinzip bereit sei, „Flüchtlinge bei uns aufzunehmen, zum Beispiel zu medizinischen Behandlungen. Und das wird auch geschehen.“ [1] Ein solches Vorgehen könne es jedoch nur als gemeinsames Vorgehen der EU und in Absprache mit den Vereinten Nationen geben. Ist der Verweis auf ein koordiniertes Vorgehen mit der EU und den UN eine Aufschiebetaktik, um nicht in die Bredouille zu geraten, Worten auch Taten folgen lassen zu müssen oder gibt es tatsächlich diplomatische Bestrebungen, eine medizinische Notversorgung zu gewährleisten? So oder so, an den europäischen Außengrenzen besteht akuter Handlungsbedarf.

Loran Shamdin ist zwei Jahre alt und leidet unter Hämophilie, auch als „Bluterkrankheit“ bekannt. Der kleine Junge ist blass, die krausen Locken fallen in ein gezeichnetes Gesicht. Etwas Weises liegt in seinem Blick, während er geistesabwesend mit der Gebetskette seines Vaters spielt. Wir sitzen auf den Stufen einer Billigabsteige im Stadteil Basmane in Izmir, einer Großstadt an der türkischen Agäis. Lorans Familie kommt aus den kurdischen Gebieten in Syrien und ist wegen der Kampfhandlungen, die auf Demonstrationen gegen Machthaber Assad folgten, in die Türkei geflohen. Die Eltern und ihre drei Kinder fuhren über die Grenze in die kurdischen Gebiete Iraks, um dann nachts den Grenzfluss zur Türkei zu überqueren und einen Bus nach Izmir zu nehmen. Sie hatten gehört, dass dort die europäische Grenze nicht weit sei – und außerdem herrsche dort ein für die Türkei verhältnismäßig tolerantes Klima gegenüber Kurden.

Loran (Mitte) und sein Vater warten schon wochenlang darauf, dass etwas passiert. // Since weeks, Loran (center) and his father are waiting for something to happen.
Die Kurdenfrage in der Türkei ist weiterhin ungelöst. Zwar ist unter der Regierung des konservativen AKP-Ministerpräsident Erdogan einiges unternommen worden, um die kulturellen Rechte der Kurden zu verbessern – kurdische Fernsehsender wurden genehmigt und es gibt offenbar sogar vereinzelt kurdischsprachigen Schulunterricht. Eine umfassende Anerkennung kurdischer kultureller oder gar politischer Identität, wie sie von vielen kurdischen Gruppen gefordert werden, jedoch ist weiterhin nicht absehbar. Während der Regierungsperioden der kemalistischen CHP war meist wenig Platz für kurdische Fragen, zu sehr hing man an den vermeintlichen Vorgaben des allgegenwärtigen Idols: Staatsgründer Atatürk hatte ganz bewusst das Türkentum als Identifikationsnukleus für die 1923 gegründete Republik gewählt, um dem islamischen Sultanat, das religiöse und politische Führung in einer Person vereinte, etwas entgegenzustellen. Für Kurdentum war kein Platz.

In den 70er und 80er Jahren wurde dann verstärkt gegen kurdische Autonomiebestrebungen vorgegangen: Wer kurdisch sprach, schrieb oder auch nur ein kritisches Wort gegenüber der Zentralregierung verlor, lief Gefahr, eingesperrt und gefoltert zu werden. Nach Jahren der Assimilation sprechen mittlerweile viele junge kurdischstämmige Türken ihre Muttersprache nicht mehr. Auch wenn Erdogans AKP tendenziell eher für eine muslimisch-liberale statt nationaltürkische Identität steht: Das auf die Hauptstadt Ankara zentrierte Regierungssystem der Türkei lässt dezentralere Strukturen nach wie vor kaum zu, wie sie nötig wären, um den kulturellen und politischen Eigenheiten des kurdischen Südostens gerecht zu werden. Die politische Türkei wird von Istanbul, Ankara und Izmir aus dominiert.

Die kurdischen Gebiete erstrecken sich über Teile der Türkei, Irans, Iraks und Syriens. Im Laufe des Jahres 2011 hat die syrische Armee ihre Präsenz im kurdischen Nordosten aufgegeben, verschiedene kurdische Gruppen organisieren sich nun dort und nutzen das Machtvakuum, um in Kooperation mit Kurden im teilautonomen Nordirak Fakten zu ihren Gunsten zu schaffen. Die PKK und ihr syrisches Pendant, die PYU, kontrollieren einen Großteil der dortigen Gebiete und Grenzen. Das gefällt der türkischen Regierung natürlich gar nicht. Man befürchtet ein Wiederaufflammen der kurdischen Autonomiebestrebungen und will das Kurdenthema am liebsten unter den Tisch kehren. Dass syrische Kurden scharenweise in der Türkei Schutz suchen, passt nicht in das Konzept dieser Politik. Izmir war jedoch schon in den 80er Jahren eine der wichtigsten Städte für die wenigen Kurden im Westen der Türkei: Als Handelszentrum versprach es Arbeit, als Hafenstadt eine schöne Lage am Meer und als moderne Stadt die notwendige kulturelle Toleranz – nun gewinnt auch die geographische Nähe zu Europa vermehrt an Gewicht.

Lorans Vater zeigt das Schreiben mit dem medizinischen Befund eines Krankenhauses in Izmir. //  Loran's father displays the letter with the diagnostic findings of a hospital in Izmir
Loran Shamdin und seine Eltern sind in Izmir als Flüchtlinge registriert und haben aufgrunddessen auch das Recht auf medizinische Versorgung – zumindest in der Theorie. Demet Gül von der Flüchtlingsorganisation Mültecin Der in Izmir erklärt uns jedoch, dass es immensen bürokratischen Aufwands bedürfe, diesem Recht auch zur Umsetzung zu verhelfen: In der Realität würde fast kein Flüchtling medizinisch versorgt, die Zuzahlungen in Krankenhäusern seien für Flüchtlinge besonders hoch. Loran ist mit seiner Hämophilie zwar bei der Gesundheitsbehörde registriert, vom türkischen Staat wird jedoch nichts weiter unternommen. So harren seine Eltern aus und hoffen, dass es zu keinen Zwischenfällen kommt, denn eine nächtliche Flucht über den Landweg ist angesichts der Gefahren durch Wassergräben, Hunde, Dornen und Zäune ausgeschlossen: Wenn Loran sich auch nur leicht verletzte, würde das seinen sicheren Tod bedeuten. Auch mit den Booten der Menschenschlepper wollen sie nicht fahren, da niemand in der Familie wirklich schwimmen kann. Immer wieder fragen sie uns, ob Europa nicht helfen könne und wir können immer wieder nur sagen: Wenn ihr es irgendwie nach Deutschland schafft, dann könnt ihr dort Asyl beantragen und medizinische Versorgung erhalten. Von Izmir aus besteht jedoch leider derzeit keine Möglichkeit, euch zu helfen.

Eine absurde Situation: Wer es illegal über die Grenze schafft, kann Asyl beantragen und wird erst mal geduldet. Wie so oft, schaffen es die Mutigen, Jungen und Starken – die Alten, Kinder und Schwachen jedoch bleiben auf der Strecke. Würden ernsthafte Bemühungen bestehen, syrische Flüchtlinge medizinisch zu behandeln, so bedürfte es konkreter Anlaufstellen für Hilfesuchende. Doch die gibt es nicht. Mültecin Der ist eine der wenigen aktiven Nichtregierungsoranisationen und ihre Einschätzung ist ernüchternd: In der Türkei gibt es kein Asylgesetz und damit keine Regelung der Rechte von Flüchtlingen. Alles werde aufgrund von Verordnungen der Exekutive gehandhabt, weshalb Rechtsunsicherheit und Willkür herrsche. Man könne keine klare Auskunft geben. Auch die internationale Flüchtlingsstelle UNHCR sei überfordert und nicht immer da, wenn es um konkrete Hilfe wie im Falle Lorans geht.

Genau für einen solchen Fall wie den von Loran Shamdin bedürfe es einer europäischen Initiative, meint Demet Gül von Mültecin Der. Europa müsse Geld in Hand nehmen, es müsse eine politische Entscheidung und deren konkrete Umsetzung geben. Solange dies nicht geschehe, werde faktisch alle Verantwortung an die türkischen Behörden abgeschoben, welche weder gesetzlich verpflichtet, noch faktisch in der Lage sind, zu helfen. Mültecin Der lobbyiert schon seit zwei Jahren für die baldige Umsetzung der angekündigten Asylgesetzs, doch die Abstimmung darüber ist zuletzt (vielleicht gerade angesichts der schwierigen Flüchtlingssituation) immer wieder verschoben worden.

Wir unterhalten uns gegenüber dem Hotel mit Lorans Familie und anderen syrischen Flüchtlingen. // Sitting and talking with Loran's family and other Syrian refugees over the road from the hotel.

Loran und seine Familie sind so die Leidtragenden einer verfahrenen und absurden Situation, die sich durch die Versprechungen des deutschen Außenministers Westerwelle nicht geändert hat. Dazu müsste er seinen Worten auch Taten folgen lassen. Im Fall von Loran Shamdin wäre es verhältnismäßig unkompliziert, die Familie über Mültecin Der in Izmir zu lokalisieren und sie über die deutsche Botschaft zur medizinischen Versorgung in die Bundesrepublik schaffen zu lassen. Solange das nicht geschicht, sind Westerwelles Worte leider nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.

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Until now, Europe is not willing to give asylum to Syrian refugees, most of them internally displaced and some taking refuge in the neighbouring countries' camps. Nevertheless, German foreign minister Guido Westerwelle recently said Germany would be willing to "accomodate refugees, e.g. for medical treatment. This is going to happen." [1] This could, however, only be a conjoint line of action, including European Union and United Nations. Should this reference to the necessity of a coordinated approach be assessed as an excuse so not to have to actually act on that promise or are there existing diplomatic affords to grant a medical emergency treatment? Anyhow, at the borders of Europe there is a need for immediate action.

Loran Shamdin is two years old and is suffering from haemophilia, commonly known as "bleeding disorder". The small boy looks pale, his frizzy curls hanging in his marked face. Something wise dwells in his deep gaze, as he is absentmindedly playing with his father prayer beads. We are sitting on the steps of a cheap hotel in the middle of Basmane, the poorer quarter of Izmir, a metropolis at the Turkish Aegean Sea. Because of the civil war following up the mass protests and rallies against Assad, Loran's family fled from the Kurdish areas in Syria into Turkey. The parents and their three kids went into northern Iraqi Kurdistan first in order to cross the border river to Turkey at night and from there take a bus to Izmir. They had heard from there it wouldn't be far to Europe – and, moreover, they would find the most tolerant climate possible in Turkey towards the Kurdish.

The Kurdish issue still remains unsolved in Turkey. Sure, the Erdogan government of the AKP brought some measure on the way in order to improve cultural rights of Kurdish people – such as licensing of Kurdish television or even some allowance for school education in Kurdish language. Yet still, a comprehensive recognition of Kurdish cultural or even political identity, as demanded by many Kurdish groups, is not to be expected soon. During the rule of the Kemalist CHP there was barely space for Kurdish matters, way too strict they adhered to the guidelines of the all-time-present idol: Founder of state, Kemal Atatürk, had chosen the Turkdom as an identification nucleus quite intentionally, when in 1923 the Turkish republic was founded. He needed to establish a new counter-identity able to successfully oppose the islamic sultanate which used to combine religious and political leadership in the same person. So there was no space left for Kurdity.

Later in the 70's and 80's there was much resistance against Kurdish efforts for autonomy. Who was speaking or writing Kurdish or dared to criticize the central government was in danger to be imprisoned and tortured. After years of assimilation, many young Turks with Kurdish origin don't speak their language anymore. Although Erdogan and his AKP might stand for a moderate muslim and liberal rather than for a Turk nationalist identity, the governmental system of Turkey is still centred towards Ankara, not providing for more decentralized structures as they would be necessary in order to allow for the cultural and political specifics and distinctions of the Kurdish south-east. The political Turkey is still being run from Istanbul, Ankara and Izmir.

The Kurdish area covers wide parts of Turkey, Iran, Iraq and Syria. In 2011, the Syrian army withdrew from the country's north-east and several Kurdish groups took over. They are reorganizing and use the vacuum of power in order to factualize the situation to their advance, in cooperation with Kurdish groups from the partly autonomous Kurdistan in northern Iraq. The PKK and their Syrian counterpart, the PYU, control the most part of the north-east Syrian region and it's borders. Of course this is not to the liking of the Turkish government, for they fear a reinflammation of the Kurdish struggles for autonomy they want to rather draw the curtain over. Thousands of Kurdish Syrians, seeking asylum in Turkey – they does not fit in this policy. However, since the 80's, Izmir has been one of the most important cities for Kurds in western Turkey.: As a center of trade it was promising jobs, as a harbour city a proximity to the sea and as a modern city a certain cultural tolerance – meanwhile, the geographical proximity to Europe gains weight for them as well.

Loran Shamdin and his parents are registered as refugees and thus have a right to medical treatment – at least in theory. Demet Gül from the refugee organisation Mültecin Der explains to us the immense bureaucratic afford which is needed to put this right to realisation: In reality, almost none of the refugees are medically cared for, the extra payment is especially high for refugees. Loran's haemophilia is registrated with the health authorities, nevertheless, from the part of goverment there are no steps expected to be taken. Thus, his parents persevere in Izmir and hope that there would be no incidents. A nightly escape through the land border's water ditches, barb wires, thorns and watch dogs is just impossible: Just a single scratch could cost Loran's life. The human trafficker's boats are not an option either, for none of the family can actually swim. So they ask us again and again whether Europe could help them and we have to answer again and again that our hands are bound. Only if you make it to Germany, then you can apply for asylum there and get medical treatment for Loran. But that is way too dangerous and from here, from Izmir, it is impossible for us to help you right now, because of the political and juridical situation in Europe.

It's an absurd and almost gross situation: Who makes it across the border illegally, will be able to apply for asylum and will be tolerated for now. As always, the brave, young, strong make it – the old, too young and the weak stay behind. If there would be serious efforts to help Syrian refugees medically, there would be need for specific contact bureaus for people in need for help. But there are none. Mültecin Der is one of the few active non-governmental refugee relief organisations and their assessment of the situation is disillusioning: There is no legislation on asylum in Turkey, an asylum law simply doesn't exist, and thus there is no official interpretation of refugee's right. Refugees are being dealt with only according to executive decrees, which is causing uncertainty of law and arbitrariness of action. It is impossible to give authoritative and reliable information as to legal status and treatment, even the international refugee office UNHCR is unable to cope with the situation, especially when asked for practical help as in Loran's case.

Exactly for such a case as that of Loran Shamdin there is need for a European initiative, says Demet Gül of Mültecin Der. Europe would have to make a political decision, followed by investing some money into it's implementation. As long as this does not happen, as long as Europe keeps abdicating from it's responsibility, Turkish officials will stay solely responsible, confronted with a situation where they are neither lawfully obliged nor financially enabled to act and help. Since almost two years, Mültecin Der is lobbying towards a speedy implementation of the promised asylum law, but just recently the vote about it was adjourned once more, possibly just due to the current refugee situation.

Thus, Loran and his family remain the ones who suffer from an intricate and absurd situation that has not changed a bit with the obove mentioned statement of German minister of foreign affairs Guide Westerwelle. To achieve a factual change in that situation, he would have to actually act instead of only talking about helping. In the given case of Loran Shamdin, it would be comparatively uncomplicated to contact the family via Mültecin Der and to bring them to Germany for medical treament via the German embassy. As long as that doesnt happen, Westerwelle's words are not even a drop in the bucket.


Dienstag, 6. November 2012

Izmir III: Der redselige Schlepper // The talkative trafficker

English version: see below

Der „Pascha-Palast“ ist eine heruntergekommene Absteige, in der sich Flüchtlinge und arme Reisende die Klinke in die Hand geben. Man trifft auf eritreische Kindersoldatinnen, paschtunische Talibangegner, entkommene Sklaven, syrisch-kurdische Intellektuelle – und ab und zu verirrt sich auch mal der ein oder andere westliche Journalist hierher. Die Bediensteten reichen einen cay, falls auf einem der abgesessenen Polstermöbel in der Lobby Platz genommen wird. Sobald ein Gast sitzt, gesellen sich schnell andere hinzu und ein Gespräch beginnt. Während sich drei afrikanische Männer lauthals in ihrem Zimmer im ersten Stock streiten, starrt ein kahlgeschorener Afghane auf die Nachrichten im türkischen Fernsehen.

Hismet schaut wie jeden Tag auch heute auf seinem Morgenspaziergang durch den Stadtteil Basmane im Pascha-Palast vorbei. Hismet ist Menschenschlepper. Erst vor einem Monat wurde er nach zwei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen, er war im Vorfeld eines geplanten Boots-Transfers festgenommen worden. Die erhöhten Strafen für Menschenschmuggel in der Türkei ärgern ihn zwar, doch halten sie ihn nicht davon ab, weiter nach potentiellen Kunden Ausschau zu halten. "Frischfleisch", denkt er sich, als sein Blick auf Abru fällt, einen jungen Palästinenser, der sich gerade auf einen der plüschroten Sessel gefläzt hat und auf den ersten Tee des Tages wartet.

Wie gewohnt geht Hismets Gang als erstes nach hinten ins nobel ausgestatte Büro des Hotelbesitzer Yilmaz. Der großgewachsene, dicke Mann mit stattlichem Bart legt seinen mit einer osmanischen Kalligraphie versehenen Arm um den Neuankömmling und bringt ihn nach ein paar Worten zurück in die Lobby, wo er mit einem leichtem Kopfnicken zwei cay herbeikommen lässt. Unauffällig blickt Hismet hinüber zu Abru. Yilmaz gibt ihm mit einem kurzen Augenzwinkern zu verstehen, dass jener auf der Suche nach einem Boot sei. Ein leichtes Lächeln huscht über Hismets Gesicht als er aufsteht und sich mit leichter Verbeugung und warmem Händedruck vorstellt. Er fackelt nicht lange und sagt auf arabisch, dass er "Schmuggler" sei und Abru gerne auf einen Tee einladen wolle. Dieser sagt erfreut zu. 

Potentielle Kunden für Hismet gibt es in Izmir genug // There is no lack of customers for Hismet's business in Izmir

Auf dem Platz vor der Hatuniye Moschee herrscht munteres Treiben. Vereinzelt sitzen alte Männer auf den Parkbänken und starren Löcher in die Luft. Der irre Hüseyin läuft klatschend und jubelnd die Marktstraße hinab und wirft einer am Bordsteinrand kauernden syrischen Familie fünf Lira vor die Füße. Im Vorbeigehen steckt Hismet dem kranken Kurtulus eine Zigarette hin, die dieser mit seinen verwundeten Händen in den Mund schiebt und sich zittrig anstecken lässt - mit dem Ausatmen haucht er ein schwaches tesekürler hervor. Basmane ist voll von gezeichneten Menschen. Im Karadeniz Kiraathanesi sitzen bereits Hismets Handlanger Murat und Kemal. Abru ist nervös, als er die beiden anderen sieht und greift dennoch bereitwillig zu, als Hismet ihm eine Bensons anbietet.

„Du willst also nach Europa?“, fragt der etwas knöchrige Kemal geradeheraus. „Ja, nach Frankfurt, will ich, in Deutschland. Da hab ich mal studiert und dahin will ich wieder zurück“, antwortet Abru und fügt zögernd hinzu: „Eigentlich wollte ich oben in Griechenland über den Evros, aber meinem Kumpel Masar wurde dort vor ein paar Wochen von einem Hund das Gesicht zerbissen. Vielleicht ist es mit dem Boot doch leichter.“ Murat, der gar nicht richtig zugehört hat, sagt seinen Standardsatz: „Der Spaß kostet Dich 1000 Dollar. Keine Verhandlungsbasis. Wir bringen Dich auf eine griechische Insel und Basta. Die Hälfte zahlst Du vorab, den Rest bei Ankunft. Tamam?“ – Abru wirft die noch nicht ganz abgebrannte Zigarette wahllos auf den Boden und nippt an seinem Glas Tee. „Ich zahle erst dann, wenn ich meinen Fuß auf europäischen Boden gesetzt habe.“

Jetzt ist Hismet dran, ein Machtwort muss her: „Hör mal zu, Bruder. Wir müssen schließlich auch den Bootskapitän zahlen und ein Boot leihen. Glaubst Du etwa, das bezahlt sich von selbst? Junge, ich bin gerade erst aus dem Knast raus und glaub mir, ich nehm kein Geld mehr in die Hand für arme Schlucker.“ Abru legt eine Lira-Münze auf den Tisch und steht auf: „Ich überlegs mir!“ Die drei Schlepper grinsen sich zu, als der junge Mann sich auf den Rückweg zum Hotel macht. „Der weiß wohl noch nix von dem gesunken Boot mit den Syrern“, raunt Kemal in die Runde.

Vor zwei Wochen ist ein Boot gerade mal 50 Meter von der griechischen Grenze auf Grund gelaufen und gesunken, dabei sind etwa 60 der 100 Insassen zu Tode gekommen. Weil sie nicht schwimmen konnten oder unter Deck eingesperrt waren. Seitdem ist der Umsatz von Hismet stark nach unten gegangen, auch die türkische Polizei patrouilliert seitdem verstärkt. „Langsam muss Kohle her, meine Frau macht langsam schon Druck zuhause. Die drei Schwarzen sind auf jeden Fall dabei. Die zahlen zwar erst am Ende – aber die haben die Asche, das weiß ich.“ Er wendet sich an den schmächtigen Kemal mit dem sauber gebügelten Hemd. „Kemal, fahr morgen bitte runter zum Hafen und red mit dem Kapitän, ob der auch schon mit der Hälfte vorab leben kann. Dieser Halsabschneider will ja tatsächlich 15.000 Dollar für Boot und Kapitän. Versuch ihn auf 12.000 runterzuhandeln. Sonst bleibt ja kaum mehr was für uns übrig. Sag ihm das ruhig. Ich geh doch für 2.000 Dollar nicht weitere drei bis acht Jahre in den Bau!“

Wütend steht der stämmige Mann mit dem dichten Dreitagebart auf und ignoriert geflissentlich, dass der kleine Hocker rücklinks umfällt. Er drückt dem Kellner fünf Lira in die Hand und setzt sich gedankenverloren in Richtung Moschee ab. Zeit zum Beten. Der Muezzin fängt an zu rufen, als Hismet sich die Schuhe auszieht und mit der rituellen Waschung beginnt.

Essensausgabe an syrische Flüchtlinge // Food bank for syrian refugees

The Pasha Palace is a scruffy fleabag where refugees and poor travellers flock together. You can find here Eritrean child soldiers, Pashtun rebels, Darfuri slaves and Kurdish-Syrian intellectuals, occasionally one or two western journalists as well. The employees bring a cay, if one sits down on one of the worn-out couches in the lobby. Once sitting and drinking, others join in no time and, usually, a vivid conversation starts. As three black African men argue loudly in their room upstairs, a bald-headed Afghan stares at the news in Turkish television.

As every day, Hismet is on his morning walk through the quarter Basmane and drops in at the Pasha Palace's. He is a human trafficker. Just one month ago, he was released from jail after two years of prison; he had been captured in the run-up to a planned refugee boat transfer. The increased penalties for human trafficking in Turkey bother him, yet still they don't keep him from looking for prospective clients. “Fresh meat” he thinks, as he sees Abru, a young Palestinian lolling on the worn-out red couch in the lobby, waiting for the first tea of the day.

As usual, Hismet's first steps in the hotel lead him into the rather luxuriously furnished office of the hotel owner, Yilmaz. The tall and bulky Turk with a stately moustache puts his arm, which is decorated with a Osman calligraphy, around the new arrival and after some words takes him back to the lobby, where he orders two cay with a subtle nodd of his head. Hismet looks unobtrusively at Abru and Yilmaz signifies him with a slight twinkle of his eye that the Afghan would be looking for a boat. A barely noticeable smile spreads on Hismet's face as he rises and introduced himself with a warm hand shake. Not vacillating, he says in Arabic that he is a “Smuggler” and would like to invite Abru for a tea outside. The young Afghan agrees with pleasure.

On the square in front of the Hatuniye mosque there's vivid coming and going. Every now and there some old men sit on benches in the park and stare off into space. The crazy Hüseyin runs down the market street, throwing five Lira at a Syrian family cowering against the curb, while he is clapping and cheering. As Hismet walks past the sick Kurtulus and offers him a cigarette, the latter puts it to his mouth with wounded fingers, looking up to Hismet, tremulously and without words asking for a lighter. Breathing out the first puff of smoke, he is uttering a feint teshekürler, “thanks”. Basmane is full of these worn-out persons marked by life. In Karadeniz Kirathanesi, Hismet's helpers Murat and Kemal are already waiting. Seeing them, at first Abru gets nervous, but then he takes the offered Benson's. 



“So you want to get to Europe?” the boney Kemal asks rightaway. “Yes, I want to go to Frankfurt, in Germany. I once studied there and I want to go back there”, Abru answers and adds with a slight hesitation: “I was planning on crossing the Evros river at the border to Greece, but a buddy of mine had his whole face bitten by dogs there, some weeks ago. So perhaps it is easier with a boat?” Murat, who hadn't really followed what Ebru was saying, answers with his standard response: “It's 1000 Dollar. No bargaining. We just take you to a Greek island and nothing else. Half the money you pay in advance and half when you get there. Tamam?” – Abru snips the half smoked cigarette to the ground and takes a sip from his tea glass. “I won't pay before I reach European territory.”

Now it's Hismet's turn to put his foot down. “Listen closely, brother. We have to pay for boat and crew. Do you think they pop out of thin air? Boy, I was just released from jail and you can believe me, I am not going to pay for poor dreamer's bills!” Abru puts a Lira coin on the table and rises. “I will consider it.” The three traffickers smile at each other, as the young man walks back to the hotel. “Obviously he hasn't heard yet of the sunken boat with the Syrians”, Kemal whispers.

Two weeks ago, a fishing boat run onto ground barely 50 metres away from the Greek shores, it sank. About 60 of the 100 passengers died, either because they couldn't swim or because they were locked under deck. Since that day, Hismet's business went down the river, Turkish police is also increasedly patrouilling the area now. “I need the money soon. My wife complains everyday. The three Africans are in, and they got the bucks, I know, although they will pay only in case of success.” He turns towards the slim Kemal with the clean and ironed shirt. “Kemal, please drive down to the harbour tomorrow and talk to the Captain. Maybe he can live with only half in advance? This cutthroat really wants 15 000 dollars for boat and crew, so try to bargain for 12 000, otherwise there will be nothing left for us. You can tell him that! I won't risk another two to eight years of prison just for some 2 000 dollars!”

The bulky man with a thin beard rises angrily, stately ignoring that the stool he was sitting on is falling backward onto the street. Throwing five Lira into the servant's hand, he walks away towards the mosque, absorbed in thoughts. Prayer time. The muezzin begins to call, as Hismet takes off his shoes and starts the ritual washing.

Freitag, 2. November 2012

Izmir II: Der einsame Darfuri // The lonely Darfuri

English version: see below.

Die Eltern von Ahmad und Azed Alyias lebten und arbeiteten, ebenso wie ihre Eltern und Großeltern, in einer Familie von Viehbauern unweit des kleinen Wüstenstädtchens Kutum, etwa 40 Minuten nordwestlich der 280.000-Menschen-Metropole Al-Fashir im südwestlichen Sudan gelegen. Schon seit Jahrtausenden war diese Region – wir kennen sie heute unter dem Namen Darfur – eine wichtige Basis für pharaonisch-ägyptische, islamisch-arabische und später ottomanisch-türkische Sklavenhändler: Sie kauften Menschen, die in Konflikten zwischen lokalen Siedlungen und Stämmen in Gefangenschaft und damit in Leibeigenschaft geraten waren – oder raubten sie einfach direkt aus ihren Siedlungen und von ihren Feldern. Seit vielen Generationen leben die Menschen hier daher in ständiger Angst, von heute auf morgen ihre Freiheit verlieren und für den Rest ihres Leben weit weg verkauft werden zu können.

Durch den massenhaften Sklavenexport, der auch im 20. Jahrhundert unter britischen, belgischen, französischen und ägyptischen Besatzern weitergeführt wurde, hat diese Angst bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren. Nicht nur, weil es auch im 21. Jahrhundert und bis heute immer wieder sowohl zu gezielten Sklavenjagden als auch zu Versklavungen unterlegener Kriegsgegner kam und kommt, sondern vor allem auch wegen der anhaltenden Separationskämpfe, die immense Flüchtlingsbewegungen verursachen. Sudan, Südsudan sowie die Bürgerkriegsregion Darfur gelten nach Angaben des Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Genf als die Region mit den meisten Binnenvertriebenen weltweit; gleichzeitig tauchen immer wieder Beweise auf, dass die Sklaverei in der Region nach wie vor boomt, obwohl die jeweiligen Regierungen sich gegen diese Behauptung schärfstens verwehren. Auch nach dem Waffenstillstand zwischen Sudan und Südsudan von 2005 tobt in der Region Darfur bis heute ein mit höchst brutalen und menschenverachtenden Mitteln geführter Bürgerkrieg, der viele Menschen aus ihrer Heimat vertreibt, im verzweifelten Versuch, ihr nacktes Leben zu retten.

Der Park in Basmane. Ein Obdachloser hat seine Habseligkeiten an den Baum gehängt. // A central square in Basmane. A homeless person put her belongings up on a tree.

Ahmad Alyias ist einer dieser Menschen. Bereits als Jugendlicher in eine der Bürgerkriegsarmeen zwangsrekrutiert, wagte der gebürtige Darfuri es vor knapp anderthalb Jahren, sich unter Lebensgefahr erst nach Ägypten und dann mit Hilfe von Menschenschleppern weiter Richtung Norden in die Türkei abzusetzen. Ich treffe ihn in einem billigen Hotel in Izmir, einer Millionenstadt an der türkischen Ägäis, von wo aus zehntausende Flüchtlinge auf den Absprung nach Europa warten. Zusammen mit meinem Kollegen Michael Kolain bin ich hierher gekommen, um Flüchtlinge zu treffen – wir recherchieren im Rahmen eines investigativjournalistischen Projekt die Wege syrischer Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. Eine ortsansässige Flüchtlingsorganisation, mit der wir noch am Morgen gesprochen hatten, hatte uns den Tipp gegeben, einen Blick in die heruntergekommenen Hotels rings um die Moschee des Armenviertels Basmane zu werfen, wenn wir mit Flüchtlingen sprechen wollten.

Neben seiner Muttersprache Dinka spricht Ahmad fließend Arabisch und ein paar Brocken Englisch. Ein Studium in Finnland, das ist sein Ziel, aber um das zu erreichen, muss er dort erstmal unbemerkt ankommen, Asyl beantragen und bewilligt erhalten. "England, Germany, good," sagt er, "student in Finland, best." Einen wirklich detaillierten Plan hat der etwa 30jährige nicht, nur einen Bruder Azed in Deutschland und den nächsten Schritt direkt vor Augen: Die Ägäis zu überqueren, um von dort aufs griechische Festland und weiter nach Nordeuropa zu kommen. "But going Europe, very dangerous. Boat dangerous. No swim. Good friend dead last week." Letzte Woche sei ein Boot gesunken, etwa 60 Flüchtlinge seien dabei ums Leben gekommen, unter ihnen ein guter Freund, mit dem er aus dem Sudan bis hierher gekommen sei.

Im Sudan war die Familie Alyias nicht arm. Als Angehörige der Dinka-Ethnie gehörten sie nicht zu den Hauptopfern der häufigen Massaker, als Viehbauern – unter britischer Herrschaft wurden viele Dinka rings um die britischen Kolonialposten sesshaft – führten sie ein verhältnismäßig abgesichertes Leben. Auch jetzt ist Geld nicht das größte Hindernis für Ahmads Pläne. Gemeinsam organisieren mehrere Dinka-Flüchtlingen von Izmir aus nach und nach ausreichend Finanzmittel, um für jeweils einen Flüchtling die nötigen 1000 Dollar für eine Überfahrt in einem der größeren Fischerboote bereitstellen zu können. Durch den Tod seines Freundes ist er nun als Nächster an der Reihe, das Geld hätte nach erfolgreicher Überfahrt nach Chios bezahlt werden sollen, nun steht es Ahmad zur Verfügung.
Doch die Überfahrt ist gefährlich, nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die Schlepper – die Türkei hat kürzlich auch den Versuch des Menschenschmuggels unter eine erhebliche Gefängnisstrafe gestellt, was viele Schlepper und Fischer inzwischen von diesem ehemals lukrativen Nebenverdienst abschreckt.

Für Ahmad Alyias ist eine Rückkehr in den Sudan keine Option: Bis auf seinen Bruder Azed in Deutschland ist seine ganze ihm bekannte Familie seines Wissens tot und auch ihm droht die sichere Hinrichtung als Deserteur, sollte er in seine Heimat zurückkehren. Der einsame Darfuri kennt nur eine Richtung: Vorwärts. Im Versuch, der Sklaverei der Bürgerkriegsmilizen zu entkommen, durchlebte Ahmat eine wahre Odyssee – nur um schließlich die Tore Europas verschlossen und sich selbst erneut machtlos wiederzufinden, diesmal nicht den machetenschwingenden Mördern seiner Familie, sondern europäischen Bürokraten ausgeliefert. "Frontex hat meinen Freund auf dem Gewissen," erklärt er mir in gebrochenem Englisch, "nur aus Angst vor Frontex wurden die Flüchtlinge unter Deck eingesperrt." Seine Augen wenden sich während dieser Worte von mir ab und starren auf den Boden, während sie sich kaum bemerkbar mit Tränen füllen. Am nächsten Tage spreche ihn noch einmal kurz, gebe ihm meine Telefonnummer in Deutschland und er mir die seines Bruders. Falls er es nach Deutschland schafft, kann ich versuchen, ihm dort anwaltliche Unterstützung zu organisieren. Wieder mit mir reden will er nicht, er meidet mich von da an, grüßt nicht zurück und schaut mich nicht mehr an. Vielleicht hat er Angst, vor den Anderen zuviel erzählt zu haben? Nur zum Abschied, als ich mit dem Rucksack das Hotel verlasse, zwinkert er mir mit einem ernsten Lächeln zu und legt seine Hand aufs Herz.



Ahmad möchte nicht, dass wir Bilder von ihm machen. Wir interviewen ihn in einem Teegarten. // Ahmad does not want his pictures to be taken while we interview him in a tea-garden.


Just like their ancestors, the parents of Ahmad and Azed Alyias lived and worked as cattle farmers close to the small desert city Kutum, about forty minutes north-west of the 280k metropolis Al-Fashir in south-west Sudan. Since thousands of years, this region – today known as Darfur – has been an important base for slave traders under pharaonic, islamic or ottoman rule. They bought people who had been captured into slavery during conflicts of local settlements or tribes, if they not directly captured people from their settlements and their fields themselves. Thus, for many generations people in this area lived in permanent fear of losing freedom, being sold into far away countries for the rest of their lives.

This fear lost nothing of its actuality and topicality, due to the massive slave export still going on in 20th century under british, belgian, french and egypt occupations. Not only because there still were and are organized slave hunts and enslavement of defeated enemies long into the 21th century and even until today, but also because of the ongoing hostilities about separation, causing immense refugee movements. Sudan and South Sudan as well as the civil war region Darfur stand as the area with the most internal refugees worldwide, says Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) in Geneve. Nevertheless every now and then there is new proof that slavery is still prospering in this region, although the governments officially deny this sharply. Even after the ceasefire between Sudan and South Sudan, civil war is raging there with brutality and dehumanizing measures still today; men and women are expelled from their homes, desperately trying to save their bare lives.

Ahmad Alyias is one of these men. Forced into one of the civil war armies as a youth, he dared escaping under danger of life first to Egypt and then with human traffickers further north into Turkey. I meet him in a cheap Hotel in Izmir, a megacity close to the Aegean Sea, from where thousands of refugees try to get to Europe somehow. Together with my collegue and friend, Michael Kolain, I came here to meet refugees – we are investigating for a project about the paths of Syrian refugees on their way into Europe. A local refugee organisation we talked to in the morning pointed us towards the worn-out hotels around Basmane's mosque, if we wanted to talk with refugees.

Apart fom Dinka, his mother tongue, Ahmad speaks fluent Arabic and some English. To study in Finland, that is his goal, but to achieve it he would have to get there unidentified first, apply for asylum – and get it granted! "England, Germany good" he says in broken English, "student in Finland best." The thirty year old doesn't have a detailed plan, just a brother, Azed, in Germany and the next step right before his face:  To cross the Aegean Sea to get to the greek mainland and from there up to Northern Europe. "But going Europe, very dangerous. Boat dangerous. No swim. Good friend dead last week." Last week a boat sunk, about 60 refugees died – a good old friend he knew from Sudan amongst them. Ahmad cannot swim.

Ein Katze im Armenviertel Basmane. // A cat in the slum of Basmane.

In Sudan, the Alyias family wasn't poor. As members of the Dinka ethnic group, they did not belong to the main victims of the frequent massacres, as cattle farmers – under british rule, many Dinka settled around the British colonial posts – they led a decent and comparatively secured life. Even today, money is not the biggest obstacle for Ahmad's plans. Together with some other Dinka refugees in Izmir, he is organising money to pay the traffickers to get them one by one over to Greece in a more secure fisher boat: 1000 dollar per head. Because of the recent death of his friend, now he is next in the row: The money should had been paid after a successful traverse to Chios, now Ahmad can use it. But the traverse is dangerous not only for the refugees but also for the traffickers – Turkey recently passed a law penalising even the attempt of trafficking with several years, deterring traffickers and fishermen from this once profitable auxiliary income.


To Ahmad Alyias, returning to Sudan is not an option. Apart from his brother Azed in Germany, he believes his whole family dead and he is sure that in Sudan nothing awaits him but execution as a deserter in case he returns home. The lonely Darfuri knows only one direction: forward. Trying to escape enslavement by the civil war milita, he lived through a true odyssey – just to find the Gates of Europa closed and himself once more rendered powerless, this time delivered not to the machete swinging murderers of his family but to European bureaucrats. "Frontex killed my friend" he explains in broken English, "fear of frontex made captain put them underdeck". With these words, his eyes turn away from  me towards the floor and subtly fill with tears. Next day I talk to him only briefly, write down my phone number for him and that one of his brother for me. If he makes it to Germany, I can at least try to arrange for some attorney to help him. He refuses to talk with me again, avoids me from there, doesn't greet back and doesn't look at me any more. Maybe he is afraid to have been to talkative in front of all the others? Only for farewell, as I leave the hotel with my backpack, he smiles at me in a severe manner and puts his hand to his heart.

Izmir I: "Refugees and traffickers" – Paths and fates in the refugee quarters of Basmane // "Flüchtlinge und Schlepper" – Wege und Schicksale im Armenviertel Basmane


Beitrag in deutscher Sprache: siehe unten.

Regarding the weather situation, our departure is perfectly timed: Just a few hours after we had left Antakya – not without shooting some picture in the park of the Syrians and restocking our supplies for the 17 hour bus nighttrip – a big thunderstorm unleashed his power on southern turkey. Due to an engine breakdown, we watch it from the side of the road, but after an hour we are glad to be able to go on with the same bus, for we already have an appointment with a refugee organisation in Izmir.

The three million people city of Izmir is Turkey's third largest metropole, situated at the Aegean Sea side. On the map, the Greek islands of Chios, Lesvos and Samos seem to be just a stone's throw away. We are presuming that there has been a (re-)shift of refugee routes from the land border of the Evros region to the sea border at the Greek islands: According to FRONTEX and some relief organisations, the numbers of refugees crossing the Evros river dropped dramatically, reportedly due to a significant increase of human resources for the surveillance there. [1] What we discover in the Izmir's slums at Basmane and whom we meet there, exceeds our expectations by far: Thousands of refugees live in the cheapest hotels and on on the streets of the city, looking for human traffickers and aiming to gather the money necessary to pay them.
The upcoming days, on this blog we will keep you posted about our experiences in Izmir and about some of the people we met. Stay tuned and be part of it!



Wettertechnisch gesehen verlassen wir Hatay gerade zum rechten Zeitpunkt: Nur wenige Stunden, nachdem wir in Antakya abgefahren sind – natürlich nicht, ohne noch schnell dem Syrer-Park einen Besuch abzustatten, ein paar Fotos zu schießen und uns für die bevorstehende siebzehnstündige Nachtfahrt mit etwas Proviant einzudecken –, bricht ein recht heftiger Sturm los, den wir aufgrund eines Motorschadens vom Straßenrand aus erleben. Nach einer Stunde gehts schließlich doch noch mit diesem Bus weiter; gut für uns, denn wir haben für vormittags bereits einen Termin mit einer Flüchtlingsorganisation in Izmir ausgemacht.

Izmir liegt an der Westküste der Türkei und ist mit drei Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt des Landes. Die griechischen Inseln Chios, Lesvos und Samos in der Ägäis sind auf der Karte nur einen Katzensprung entfernt. Wir vermuten, dass eine Rück-Verschiebung des Flüchtlingsstroms vom Land- auf den Meeresweg hin zu den griechischen Inseln stattgefunden hat: Nach Aussagen der europäischen Grenzpolizei FRONTEX und einiger Hilfsorganisationen sind die Flüchtlingszahlen in der Grenzregion Evros erheblich zurückgegangen, offenbar als Folge einer erheblichen personellen Verstärkung der dortigen Überwachung. [1] Was wir dann schließlich in Izmirs Armenviertel Basmane erleben und wen wir alles treffen, übertrifft das Erwartete schließlich bei weitem: Tausende Flüchtlinge leben in den billigsten Hotels und auf den Straßen der Stadt, suchen Kontakt zu Schleppern und nach Möglichkeiten, sie zu bezahlen.
In den nächsten Tagen werden wir einige unserer Erlebnisse dort und die Menschen, die wir kennengelernt haben, in verschiedenen Formaten auf diesem Blog vorstellen. Bleibt dran und mit dabei!

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[1] "The numbers of migrants crossing the Greek-Turkish land border dropped from over 2000 a week in the first week of August to little over 200 in the second week. This is the direct effect of increased surveillance and patrolling activities by the Greek authorities, which included the deployment of an additional 1800 officers along the Evros river at the beginning of August." Quelle: http://www.frontex.europa.eu/news/situational-update-migratory-situation-at-the-greek-turkish-border-HATxN9

Mittwoch, 24. Oktober 2012

Hatay IV: „Allah'tan başka hiçbirşeyden korkmam“ // „ I fear nothing but Allah“ // „Ich fürchte nichts außer Allah“

Dieser Artikel auf deutsch: Siehe weiter unten!


(This is the last of the four posts describing the events of October 20th 2012.)

During the whole conversation in the çay evi, the tea house in Yayladağı, there are many people joining and leaving the table. The mostly muscular men greet us with a serene but grave as-salaamu a'leykum, sit at the table, drink a çay or a kahve and leave again after some time. Most of the dozen men have full beards with different length. We guess that they might be Syrians, although we communicate in Turkish language mixed with some English words. And in fact, after some minutes of slightly hesitating conversation, they turn out to be fighters in the milita of the Free Syrian Army (FSA), the military organisation of the insurgents. They invite us to a coffee and we plunge deeper and deeper into an ongoing conversation, in the course of which we talk very openly but severe about their personal feelings and the military situation in Syria from the view of the FSA.

Equipped mainly with russian AK47 automatic rifles and some other weapons, most of them captured from killed Assad soldiers, these mainly sunni milita, most of whom are from the rural areas around Aleppo, fight a war in the name of freedom, their main aim being the fall of the president in Damascus, who in their conviction is a brutal military dictator bombarding his own people and slaughtering women and children in vast numbers. As all the men around the table next to the entrance, also the elderly moustached Turk is a FSA soldier: He shows us a picture on his mobile of him posing in a bombed town in front of a dead body. He explains to us that together with his Syrian friends he is also fighting Assad. Meanwhile, an elder, very self-confident in battle uniform enters the szene, being greeted in an even more reverent manner by the other fighters. Assumingly he is some kind of commanding officer – we are quite appaled that all the Turkish policemen and soldiers on the street let him move around that unhindered even in his uniform. Or would he be a Turkish officer? Rather not. In the course of the conversation we witness a toleration of the Syrian fighters by the Turkish army which it even far more extensive than we had previously assumed.

Harun, about 40 years old and olive farmer from the Aleppo area, is especially talkative towards us. Since he led his wife and children into the safety of the refugee camp ten months ago, er comes back every now and then to rest for two days with his family before going back into the warzone for another ten days of fighting. To him it is very important for us to understand, that the FSA unites up to 100.000 members of all ethnical and religious groups: Not only Sunnites, but also Shiites, Alevites and even 300 Christians, who make up three quite well-known combat groups, as Harun says. When we start asking about Europe and the possibility of escaping to there, he only looks at us bewildered and exchanges some words in Arabic language with the guy next to him. Over the subsequent minutes, for many times he just points at his beards and signals us that he is sure that he as a muslim is not welcome in Europe and the bearded muslims are all taken for terrorists there. “Al-Qaida”, he says, and explains to us that western media are wrong in assuming a djihadist infiltration of the FSA. A picture of a bearded muslim would be enough for a westerner to proof a connection to terrorism, he is sure. But in reality, the number of djihadists in the FSA is very small, he assures us, he has seen not a single one yet.
So why should he apply for asylum in Europe, he wants to know from us. What his people really need is money and weapons to enable them to win their war. Inj addition, Europe should try to stop the supply of Russian kalashnikovs and German tanks to Assad. He asks us several times to tell all people in Europe that he and his brothers are good people and need our help so they can persist in this back-breaking war. Answering our question whether it would be to dangerous for him if we take a picture of him with his written permit to leave the camp and come to town, he answers “Allah'tan başka hiçbirşeyden korkmam” – “I fear nothing but Allah” and insists on the photograph.

One guy especially sticks in our memories. All the time he is listening to our conversation with big eyes but doesn't say a word. Everytime we are talking about war his eyes become empty and cold. He looks very traumatized. We wonder what's going on in his head. Perhaps he was facing death just a little time earlier? Maybe he killed some people himself? There is no shortage of massacres in this war, according to media reports. A young guy, approximately our age, but living in a completely different world. While we sit here investigating about politics, he will go back to the mountains to fight with a kalashnikov in his hands. As a comrade with a bandaged arm enters the tea house, he is signaling us unemotionally that the other guy got shot in his throat and upper part of the body. Looking for a smile on his face remains in vain.

After a full hour of talking with Harun and the other fighters, we realise that we have to go if we still want to catch a minibus back to Antakya. Taking into account our conspicuity in front of the camp and now here talking to these Syrians, for sure it wouldn't be a good idea to stay in Yayladağı over night. After a heartfelt goodbye, we walk down the street towards the bus stop, passing by personnel carriers of the Turkish army. All of a sudden a car stops, a regular guy get's out, introduces himself as a policeman and wants to see our passports. Now we're in trouble, we think. But although he doesn't really acknowledge our small plastic ID card as passports and asks us several times if we we're sure we're not journalists, he remains very friendly – once more thanks to Michael knowledge of the Turkish language. He explains to us that there are no more buses going back to Antakya, organizes some private car to take us back for an actually not small amount of payment and requests us strongly to take them up on their offer. All of a sudden he is just gone without further word and we think that we better adhere to his advice. After bargaining hard about the really high price, we enjoy an entertaining ride back on the dark streets of Hatay province, at the end of which we grant ourselves a relaxed çay at Antakya's riverside promenade. Finally sinking into our beds, we are still far from being aware of the intenseness of todays events.




(Dies ist der letzte von vier Beiträgen zu den Ereignissen des 20. Oktober 2012.)

Während des ganzen Gesprächs im çay evi, dem Teehaus in Yayladağı, herrscht ein munteres Kommen und Gehen. Die kräftigen Männer begrüßen sich gegenseitig mit einem ernsten as-salaamu a'leykum, setzen sich an den Tisch, trinken einen çay oder kahve und gehen schließlich wieder ihrer Wege. Fast alle der etwa ein Dutzend Männer haben dichte Vollbärte unterschiedlicher Länge. Wir gehen direkt davon aus, dass wir es mit Syrern zu tun haben, obwohl wir uns eher mithilfe der türkischen Sprache und einiger Brocken Englisch verständigen. Und tatsächlich: Nach einigen vorsichtigen Worten zu Beginn bestätigt sich, dass wir es hier mit Milizen der Freien Syrischen Armee (FSA) zu tun haben – der militärischen Einheit der Rebellen. Sie bieten uns einen Kaffee an und wir vertiefen uns in ein längeres Gespräch, in dessen Verlauf sie mit uns sehr offen und ernst über ihre persönlichen Empfindungen und die militärische Situation in Syrien aus Sicht der FSA sprechen.

Ausgestattet mit russischen AK47-Sturmgewehren und einigen anderen Waffen, die sie größtenteils von al-Assads Soldaten erbeutet haben, kämpfen diese überwiegend sunnitischen Milizen, die vor allem aus ländlichen Gegenden um Aleppo stammen, einen Kampf im Namen der Freiheit, dessen einziges Ziel der Sturz des Präsidenten in Damaskus ist – aus ihrer Sicht ein brutaler Militärdiktator, der die eigene Bevölkerung bombardiert und massenhaft Frauen und Kinder massakriert. Wie alle der Männer am Eingangstisch ist auch der ältere, schnauzbärtige Türke FSA-Soldat: Er zeigt uns ein Handyfoto, auf dem er in einer zerbombten Stadt vor einer Leiche posiert, und erklärt uns, dass auch er mit seinen syrischen Freunden gegen Assad kämpft. Während des Gesprächs kommt auch ein älterer, selbstsicherer Mann in Kampfuniform herein, der von den anderen etwas ehrerbietiger als die anderen gegrüßt. Offenbar ist er ein Kommandant in der FSA – für uns zunächst erstaunlich, dass die vielen türkischen Soldaten und Polizisten auf der Straße ihn selbst in Uniform sich derart frei bewegen lassen. Oder ist er etwa ein türkischer Militär? Eher nicht. Im Laufe des Gespräches wird klar, dass die Duldung der FSA durch das türkische Militär offenbar deutlich umfassender ist als in westlichen Medien dargestellt.

Harun, ein knapp 40-jähriger Olivenbauer aus der Nähe von Aleppo, ist uns gegenüber besonders gesprächig. Seitdem er vor zehn Monaten seine Frau und seine Kinder ins hiesige Flüchtlingslager gebracht hat, ist er immer mal wieder zwei Tage hier, um sich zu erholen und mit seiner Familie zu sein, bevor er wieder etwa zehn Tage ins Kriegsgebiet geht, um dort zu kämpfen. Ihm ist wichtig, zu betonen, dass die FSA bis zu 100.000 Angehörige aller ethnischen Gruppen und Religionen vereint: Nicht nur Sunniten, auch Schiiten, Alewiten und sogar etwa 300 Christen. Letztere bilden in der FSA drei recht bekannte Kampfgruppen, wie Harun erzählt. Als wir anfangen, über Europa und eine mögliche Flucht dorthin zu sprechen, schaut er uns nur verständnislos an und wechselt ein paar arabische Worte mit seinem Sitznachbarn. Mehrfach deutet er in der folgenden halben Stunde auf seinen angegrauten Bart und macht uns deutlich, dass er davon ausgeht, dass er mit seinem Bart als gläubiger Muslim in Europa nicht willkommen sei, und dass man alle bärtigen Muslime dort für Terroristen halte – „Al Kaida“, sagt er, und erklärt uns, dass die westlichen Medien unrecht hätten, wenn sie von einer Unterwanderung der FSA durch Dschihadisten redeten. Ein Bild von einem bärtigen Mann reiche doch für die meisten Westler aus, um eine Verbindung zur Terrororganisation zu beweisen. In der Realität sei die Zahl von Dschihadisten gering, er habe noch keine gesehen. Warum solle er Asylanträge in Deutschland stellen? An was es mangelt sind Waffen und Geld, um seinen Kampf hier gewinnen zu können. Außerdem solle sich Europa dafür einsetzen, die Lieferungen russischer Kalaschnikows und deutscher Panzer an Assad zu stoppen. Er bittet uns mehrfach darum, allen Leuten zu berichten, dass sie gute Männer seien und dass sie dringend Hilfe bräuchten, um in diesem zermürbenden Krieg bestehen zu können. Als wir ihn fragen, ob wir ein Bild von ihm mit seiner schriftlichen Erlaubnis, das Lager zu verlassen, machen könnten oder ob das zu gefährlich sei, antwortet er „Allah'tan başka hiçbirşeyden korkmam“ –„Ich fürchte nichts, außer Allah“ und besteht auf dem Foto.

Ein Mann bleibt uns besonders im Gedächtnis. Die ganze Zeit lauscht er unserem Gespräch mit großen Augen, sagt aber kein Wort. Wenn es um den Krieg geht, wird sein Blick leer und kalt. Er wirkt stark traumatisiert. Was wohl in seinem Kopf vorgeht, ob er vor kurzem noch dem Tod ins Auge geblickt hat oder gar selbst getötet hat? An Massakern mangelt es in diesem Krieg nach Medienberichten nicht. Ein junger Kerl, ungefähr unser Alter, aber in einer ganz anderen Welt als wir. Während wir hier wohlfeil recherchieren und uns Gedanken über Politik machen, geht er morgen zurück in die Berge, um mit seiner Kalaschnikow zu kämpfen. Als ein Kamerad mit Armschlinge ins Teehaus kommt, signalisiert er uns ganz nüchtern, dass dieser einen Schuss in den Hals und auf den Oberkörper abbekommen habe. Ein Lächeln sucht man auf seinem Gesicht vergebens.

Nach einem gut einstündigen Gespräch mit Harun und den anderen Kämpfern wird uns klar, dass wir gehen müssen, wenn wir noch einen Minibus zurück nach Antakya erwischen wollen. In Anbetracht unserer Auffälligkeit vor dem Lager und im Teehaus wäre es sicherlich keine gute Idee, die Nacht in Yayladağı verbringen zu wollen. Nachdem wir uns herzlich verabschiedet und das Teehaus an den auf der Straße stehenden Mannschaftswagen der türkischen Armee vorbei in Richtung Bushaltestelle verlassen haben, werden wir von einem lokalen Polizisten angehalten und um unsere Ausweise gebeten. Jetzt gibt's Ärger, schießt es uns in den Kopf. Auch wenn er unsere kleinen Plastik-Personalausweise nicht so richtig anerkennen will und uns mehrfach fragt, ob wir nicht doch Journalisten seien, ist er – wie immer nicht zuletzt dank Michaels Sprachkenntnissen – sehr freundlich. Er erklärt uns, dass kein Bus mehr fährt und organisiert uns ein Privatauto, dass uns gegen einen nicht geringen Obulus zurück nach Antakya bringen würde – er legt uns sehr nahe, das Angebot anzunehmen, verschwindet ohne weitere Worte und wir beschließen, seinem Rat zu folgen. Wir verhandeln hart um den Preis und verbringen schließlich eine unterhaltsame Heimfahrt auf Hatays dunklen Straßen, an deren Ende wir uns mit Fahrer und Beifahrer noch einen gemütlichen Tee an der Flusspromenade von Antakya gönnen. Als wir schließlich ins Bett fallen, ist uns noch lange nicht bewusst, was heute eigentlich alles geschehen ist.

Montag, 22. Oktober 2012

Hatay III: „Mein Opa ist aus Iskenderun...“ // “My Granpa is from Iskenderun..."



English version: see below

Da Journalisten und Fotografen ohne Genehmigung sicherlich eher Ärger mit den Behörden bekommen als einfache Touristen, die etwas vom üblichen Weg abgekommen sind, haben wir uns eine kleine Geschichte überlegt, die auf Michaels Türkischkenntnissen aus seiner Istanbuler Zeit aufbaut: Der Familie seiner Mutter sei aus Iskenderun, daher könne er auch ein wenig Türkisch, und wir würden die Provinz Hatay bereisen, um etwas über die Vergangenheit seiner Familie zu lernen.

Mahmud ist einer der beiden Syrer vor dem Zaun. Schienbein und Knie sind von einem Verband umwickelt. Er signalisiert uns, dass es eine Schusswunde aus dem Bürgerkrieg sei. Sobald sie geheilt sei, wolle er würde zurück über die Grenze und weiterkämpfen. Schon seit 10 Monaten komme er immer wieder hier nach Yayladağı, um sich einige Tage Pause vom Krieg zu gönnen, und jetzt hoffe er, so bald wie möglich wieder nach Syrien zurück zu können. In den Lagern gäbe es genug Essen und auch die medizinische Versorgung sei gut. Ein paar Kinder beobachten uns durch den Zaun und einige junge Männer kommen mit vollen Einkaufstüten zurück. Während wir uns mit Mahmud unterhalten, nähert sich uns ein junger türkischer Polizist. Seine Körpersprache signalisiert uns direkt, dass er harmlos und mit der Situation überfordert ist. Er fragt uns, warum wir hier seien und was wir hier machten. Eigentlich dürfe man hier nicht sein. Wir erzählen ihm unsere Geschichte und nach einem kurzen Telefonat sagt er uns, dass wir wieder zurück in den Ort müssten und uns bitte vom Lager entfernen sollten. Wir verabschieden uns freundlich und laufen am Zaun entlang zum vorderen Eingang, so dass wir weitere Blicke ins Lager werfen und versteckte Fotos machen können. Wir sehen kleinere Wohn- und größere Gemeinschaftszelte, einen Kinderspielplatz mit UNICEF-Logo und auf der anderen Seite des Lagers ein großes Militärhospital. Die Stimmung ist ruhig und alltäglich, den Menschen scheint es hier gut zu gehen, sie können offenbar kommen und gehen, wie sie wollen. Dieses Lager bietet den Syrern eine temporäre Heimat und Abstand vom Krieg, sie können in diesen Zelten einigermaßen gut leben – zumindest, bis der Winter kommt.


Auf der Straße begegnen wir einer Gruppe von Männern, zwei davon tragen eine weiße gelabia, die traditionelle syrische Bekleidung. Ein Mann spricht türkisch und fragt Michael sofort, ob er Journalist sei. Michael weicht der Frage aus und der Mann ihm dann auch, er kauft ihm die Geschichte mit dem türkischen Opa nicht so richtig ab. Johannes schafft es jedoch, einen der weiß gekleideten syrischen Männer auf Englisch in ein Gespräch zu verwickeln. Er scheint der Bodyguard des älteren, ernst-wirkenden Mann mit grauem Bart und religiöser Kopfbedeckung zu sein. Sie seien aus Syrien gekommen, um ihren muslimischen Glaubensbrüdern Mut und Kraft zu schenken. Der Bodyguard nennt den älteren Herrn seinen „Scheich“. Es muss sich also um einen sunnitischen religiösen Führer handeln. Sie wollen ein Bild mit uns machen und benutzen dafür das iPhone des Scheichs. Interessant. Nach dem Austausch von Standard-Floskeln über das Verhältnis von Christen und Muslimen – „Wir alle glauben an den gleichen Gott“ / „Mohammed und Jesus verkünden die gleiche Botschaft“ / „Wir sind alle Brüder“ – signalisieren uns die Männer, dass wir uns nun trennen müssten, und entfernen sich in Richtung der türkischen Kaserne.

Zurück in der Stadt setzen wir uns in ein bevölkertes Café, um erstmal in Ruhe einen Cay zu trinken und die Erlebnisse sacken zu lassen. Einmal fährt ein Polizeiwagen langsam an uns vorbei, ein Beamter steigt aus und geht einige Schritte direkt auf uns zu, überlegt es sich dann aber doch anders, steigt wieder ein und fährt mit seinem Kollegen langsam davon. Wir lassen es also besser nicht darauf ankommen, verhalten uns weiter wie bloße Touristen und verzichten, darauf, uns schriftliche Notizen zu machen. Stattdessen gehen wir mit gedämpften Stimmen auf Deutsch unsere Erlebnisse durch und prägen uns einige Details ein. Als wir aufstehen, um uns nach einem Bus zurück nach Antakya umzusehen, werden wir aus der bärtigen Gruppe vom Nachbartisch heraus angesprochen. Sind dies etwa syrische Widerstandkämpfer, die hier in aller Ruhe ihren çay trinken, während Polizei und Militär nur einige Meter entfernt rumstehen und rumfahren? Wir werden begrüßt und setzen uns mit an den Tisch und eine hochinteressante Unterhaltung beginnt, über die wir morgen an dieser Stelle berichten werden.





Taking into account that journalists and photographers without proper permit are more likely to get into trouble with officials than common tourists gotten of the beaten path, if being caught in the proximity of the refugee camp, we did make up a little story about our being here. It is based on Michael's knowledge of the Turkish language from his time in Istanbul: His mother's family would be from Iskenderun, that's why he knows some Turkish, and we would be travelling the Hatay province to learn about his family's roots in the past.

Mahmud is one of the two Syrians in next to the fence. Chin and knee are covered with a bandage. He is signalizing us how he got shot in the civil war. As soon as his wound would be healed, he wants to go back and continue fighting. In the last 10 months he regularly comes to Yayladağı for some days to rest a little, now he is hoping to get back to fighting as soon as possible. In the camps there would be enough food and good medical treatment. A few kids watch us through the fence and some young men come back with full bags from shopping. While we continue talking to Mahmud, a young policeman is approaching us. His body language shows us that he means no harm and and doesn't know himself how to deal with this situation. He asks us about what we would be doing here and who we were; foreigners would not be allowed to be here. We tell our story and after some minutes on the phone he kindly asks us to leave the proximity of the camp and get back to the town. We say farewell and walk along the fence, aiming for the main entrance and back to the road while peeking through the fence and secretly taking some more pictures. We see smaller living tents and some larger common tents, a children's playground with UNICEF logo and a large military hospital on the other side of the camp. The atmosphere is quiet and routine, it looks like the people are well off here, obviously they are allowed to come and go as they wish. This camp offers the Syrians a temporary home and some rest from war, they live quite well in this tents – at least until winter comes.


On the street leading back from the camp we encounter a group of men, two of which wear a white gelabia, the traditional Syrian garment. One of the men speaks Turkish and immediately asks Michael whether he would be a journalist. Michael evades the question and so the man does with conversation, seeming like he is not actually buying the story about the Turkish granpa. However, Johannes manages to start a conversation in English language with one of the traditionally clothed Syrian guys. He seems to be the aide or bodyguard of the elder and more gravely looking man with long grey beard and a religious hat. They came from from Syria to bring courage and faith to their muslim brothers, he says. The aide calls the elder man his “sheikh”, therefore he seems to be some kind of sunni religious leader. They want to take a picture and use the sheikh's iPhone for that. Interesting. After some standard cross-religious smalltalk – “we all believe in the same god”, “Mohammed and Jesus speak of the same message”, “we are all brothers” – and Johannes managing to talk them into another picture, this time with our camera, the men tell us that we would have to part now and leave, obviously in direction to the Turkish barracks.

Back in town, we decide to sit in the crowded çay evi, the local tea house, to have a çay, calm down a little, exchange our thoughts about what happened and consider our options. On time, a police car slowly passes us by, stops and we see a policeman walking some steps straight into our direction. Then he reconsiders, walks back to his car and slowly drives away with his colleague. So we decide to not put our luck to the test but better continue behaving as common tourists and not openly take journalistic notes with pen and paper. Instead, we talk about our recent experiences in German language in a quiescent manner and memorize some details. As we get up in order to look for a minibus back to Antakya, we are being greeted by some members of a group of bearded man from the neighbouring table. Could this be Syrian resistance fighters, quietly drinking their çay just openly in this tea house, with police and military standing around and driving by just a few meters away? They welcome us, we sit down at their table and start a thrilling conversation, that would last for about an hour – and will be reported about on this very blog tomorrow!

Hatay II: Approaching the refugee camp // Auf zum Flüchtlingslager


Dieser Artikel auf deutsch: Siehe unten!

(This is the second post out of four describing the events of October 20th 2012.)

Once again, yesterday was one of these days where one event triggers the next and in the evening it seems very unlikely for so many things to happen in just such a short time. As promised, we will document our findings as detailled as possible, yet in these few hours we also experienced some things of that kind, that you should better not post explicitly and with nametags on it in a public blog. However, let's start the story from the beginning...

 

After a busride of approximately 17 hours from Istanbul, we arrived in Antakya, the capital of the Hatay province in Turkey, at early morning. After a little breakfast in Serkan's restaurant (see yesterday's article), around twelve o'clock we crossed the Orontes river in order to meet Barbara, who was likely to give us accomodation. In front of the ancient catholic church, a policeman took notice of us and our big backpacks – either he was specifically asked to look for us or he does this regularly, anyway, he asked “Barbara?” and we answered “Evet!” – and lead us to Barbara Kallasch. A catholic sister who is living in Antakya for 35 years, she runs a peace center and small hostel in the middle of the so-called abrahamite triangle of mosque, church and synagogue that coexist here peacefully since the time of antique Antioch. Without hesitation we joined a little ceremony of the three religions, sang some Taizé songs with them and meditated a little before sharing their bread and enjoyed the invitiation to a little lunch. Thus invigorated and inspired by some conversation with the inhabitants of the local pilgrimage, we looked for a dolmuş minibus that would take us to Yayladağı, where – as we had learned that morning – since april 2011 there was a refugee camp that we had never heard about in European media.

Yayladağı is small town at the Syrian border, a busride of about half an hour south of Antakya. According to the town's entry signs, it is the home to 6300 people, and in the neighbouring refugee camps live another erstimated 3000. What used to be a mutual cooperation between people from two sides of two state's border, is totally changed now. In Syria, there is war and Turkey offers shelter to refugees from the warzone – reportedly, 6 to 7 million people have left their homes, looking for refuge, the vast majority of them still inside Syria. As we enter the town, everything seems to be quiet, usual everyday life. People are walking on the streets, buying some goods or sitting in the tea house. We wonder whether the bearded men might be Syrians. But somehow, everyone is talking to everyone here, many Turkish speak Arabic, many Syrians also Turkish. We follow the street downhill from the city and after a curve we see the white tents of the refugee camp glimmer behind some trees. Immediately, our pulses are rising. Until now, we thought of these camps being highly secured and impossible to penetrate. We decide to follow a small side street and sit down on a little rock wall to consider our options. The landlord walks past us, his arms full of hay. He is smiling broadly and after exchanging some words it is obvious to us that he doesn't mind us being here.

We are still approximately 100 metres away from the camp. People enter and leave it through several holes in the fence. Two men are sitting comfortably on two chairs in front of the biggest hole. Would they be guardians? Neither in the barracks nor in the small guardian's huts next to the fence we can identify uniformed soldiers. As a group of young men walks past us and aims for the hole in the fence, we decide to follow them, trying not to attract attention. Having crossed the small creek on some unstable rocks, we find ourselves right next to the hole. Who would have thought that it would be that easy? The hole is really big and inside the camp many people can be seen. Should we enter? Curiosity and enterprise encourage us, but caution tells us not to risk getting caught: If they catch us inside the camp without explicit permit, we would certainly be in very big trouble – and with our appearence we would attract an unhealthy lot of attention, that's for sure. Everything looks quiet and well organised. Kids are playing, women sitting in circles and the tents look very clean. Logos of Turkish Red Crescent and UNICEF can be spotted. So we secretly take some pictures of the inside of the camp and start a conversation in Turkish language with the two Syrian men sitting next to the fence... (tbc)






(Dies ist der zweite von vier Beiträgen, die unsere Erlebnisse vom 20.10.12 beschreiben.)

Gestern war wieder so ein Tag, bei dem ein Ereignis das nächste anstößt und man am Ende ungläubig zurückblickt, was alles in so kurzer Zeit passieren kann. Wie versprochen, berichten wir hier so ausführlich wie möglich über unsere Erfahrungen – diesmal haben wir jedoch auch jene Art von Dingen erlebt, die man nicht explizit und namentlich in einem Blog öffentlich macht. Aber von vorn...

Nach etwa 17 Stunden Busfahrt kamen wir am frühen Morgen von Istanbul in Antakya, der Provinzhaupstadt Hatays, an. Nach dem Frühstück in Serkans Restaurant (wir berichteten gestern früh) machten wir uns gegen zwölf Uhr über den Fluss Orontes auf den Weg zu jener Barbara, um bei ihr eventuell unterzukommen. Vor der uralten katholischen Kirche, die sie uns am Telefon beschrieben hatte, wurde ein Polizist auf uns und unsere großen Rucksäcke aufmerksam – entweder war er explizit auf uns angesetzt worden oder bringt Leute immer dort hin, jedenfalls fragte er „Barbara?“, wir antworteten „Evet!“ und er führte uns zu Barbara Kallasch. Die katholische Ordensschwester ist seit 35 Jahren in Antakya und leitet ein Friedenszentrum im sogenannten abrahamitischen Dreieck zwischen Moschee, Kirche und Synagoge noch aus der Zeit des antiken Antiochia, in dem auch allerlei Gäste unterkommen können. Wir nahmen bereitwillig an einer kleinen Mittagszeremonie der unterschiedlichen Religionen teil, sangen gemeinsam Taizé-Lieder und meditierten ein wenig. Danach brachen wir mit ihnen in einem kleinen improvisierten Ritual das ungesäuerte Brot und nahmen gern die Einladung zum Mittagessen an. Frisch gestärkt und nach inspirierenden Gesprächen mit den anderen Bewohnern des Pilgerwohnheims machten wir uns schließlich mit dem dolmuş, dem örtlichen Minibus, auf den Weg nach Yayladağı, wo – wie wir heut früh erst erfahren hatten – bereits seit April 2011 ein Flüchtlingslager existierte, von dem wir in europäischen Medien zuvor noch nie etwas gehört hatten.

Yayladağı liegt ungefähr eine halbe Stunde südlich von Antakya an der syrischen Grenze. In der Stadt leben laut Ortseingangsschild 6300, in dem angrenzenden Flüchtlingslagern geschätzt etwa 3000 Menschen. Was einmal eine fruchtbare Zusammenarbeit von Menschen auf zwei Seiten einer Grenze von Staaten war, ist jetzt ganz anders. In Syrien herrscht Krieg und die Türkei nimmt von dort Flüchtlinge auf – es heißt, 6 bis 7 Millionen Menschen seien zurzeit auf der Flucht, die große Mehrheit von ihnen innerhalb Syriens. Als wir in der Stadt ankommen, ist die Stimmung ruhig und alltäglich. Man spaziert auf der Straße herum, kauft ein und sitzt in Teehäusern. Wir fragen uns, ob die bärtigen Männer wohl Syrer sind. Aber irgendwie reden hier alle mit allen. Viele Türken sprechen arabisch, viele der Syrer türkisch. Wir laufen vom auf dem Berg gelegenen Stadtzentrum ein wenig abwärts und sehen nach einer kleinen Wegbiegung die weißen Zelte des Flüchtlingslagers vor uns liegen. Unmittelbar steigt der Puls, denn bisher sind wir davon ausgegangen, dass die Lager streng bewacht werden und in der Regel unzugänglich sind. Wir laufen eine kleine staubige Seitenstraße entlang und setzen uns auf eine Mauer, um unser weiteres Vorgehen zu durchdenken. Der Hausbesitzer kommt mit einem Arm voller Heu an uns vorbei und grinst uns im Vorübergehen zu, wir wechseln ein paar Worte. Ihn scheint es nicht zu stören, dass wir hier rumlaufen.

Wir sind jetzt ungefähr 100 Meter vom Lager entfernt. Durch verschiedene Löcher im Zaun kommen Leute heraus oder laufen hinein, zwei Männer sitzen gemütlich auf zwei Stühlen vor dem Zaun und trinken Tee. Ob sie wohl die Wächter sind? Weder in der Militärkaserne noch in den beiden weißen Wachhäuschen am Zaun sind Uniformierte zu sehen. Als eine Gruppe von Männer hinab zum Lager läuft, schließen wir uns einfach an, überqueren auf ein paar Steinen einen Bach und stehen nach wenigen Schritten direkt am Zaunloch ins Lager. Wer hätte das gedacht? Das Loch ist groß und drinnen ist munteres Treiben. Sollen wir reingehen? Neugierde und die Abenteuerlust sagen Ja, doch die Vorsicht sagt Nein: Wenn wir ohne Genehmigung drinnen erwischt werden, können wir sicherlich große Probleme bekommen – und mit unserem Aussehen fallen wir sicherlich rasch auf. Alles wirkt sehr ruhig und gutorganisiert. Kinder spielen, Frauen sitzen in Kreisen zusammen und die Zelte sind ordentlich aufgestellt. Logos des türkischen Roten Halbmonds und von UNICEF sind zu sehen. Also schießen wir sehr vorsichtig einige Bilder vom Innenleben des Camps und beginnen auf türkisch ein Gespräch mit den syrischen Männern am Zaun... (Fortsetzung folgt)